Der deutsche Mittelstand steht im Zentrum vieler Diskussionen, wenn es um die Transformation der Wirtschaft geht. Doch ist dieser überhaupt in der Lage, sich neu aufzustellen und welche Voraussetzungen braucht es dafür? Die NEUE DISTANZ sprach darüber mit Frau Professorin Friederike Welter vom Institut für Mittelstandsforschung Bonn.
Die Wirtschaft soll sich transformieren, hört man an vielen Stellen. Unterscheidet sich der heutige Prozess zu denen früherer Zeiten eigentlich wesentlich? Schließlich hat es Umwälzungen und Brüche schon immer gegeben. So ist die heute als etabliert und ein wenig altbacken geltende Automobilindustrie schließlich selbst einmal Motor eines die Welt verändernden technologischen Wandels gewesen.
Der heutige digitale Transformationsprozess ist prinzipiell mit den tiefgreifenden Veränderungen in früheren Zeiten wie beispielsweise dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft (zweite Hälfte 18. Jahrhundert), dem Beginn der Massenproduktion (Anfang 20. Jahrhundert) oder der mikroelektronischen Revolution (ab Mitte der 1970er Jahre) vergleichbar. Da sich im Zuge dieser Umbrüche auch die Wirtschafts-, Produktions- und Arbeitsformen verändert haben, werden diese Transformationsprozesse gerne als „Industrielle Revolutionen“ bezeichnet – entsprechend gilt die aktuelle Entwicklung auch als „4. Industrielle Revolution“.
Neu am aktuellen digitalen Transformationsprozess ist die hohe Taktzahl, mit der unternehmerische Konzepte sowie Produkte und Dienstleistungen entstehen und weiterentwickelt werden. Oder anders ausgedrückt: Das, was heute technologisch en vogue ist, kann morgen schon durch die unternehmerischen Aktivitäten eines Wettbewerbers veraltet sein. Genau in diesem Aspekt liegt jedoch die Crux für die mittelständischen Unternehmen, die sich keine eigene IT-Abteilung leisten können: Wenn sie wettbewerbsfähig bleiben wollen, müssen sie den digitalen Transformationsprozess mitmachen. Für die Führungskräfte bedeutet dies, dass sie neben dem Tagesgeschäft nicht nur regelmäßig die Gesamtunternehmenssituation betrachten, sondern auch die technologischen Möglichkeiten im Blick behalten und die Zukunftsfähigkeit des eigenen Geschäftsmodells kritisch hinterfragen müssen. Erschwerend kommt hinzu, dass die eigene Geschäftsidee sowohl von unmittelbaren Mitbewerbern als auch von Branchenfremden bedroht werden kann. Denken Sie beispielsweise an den Erfolg von Plattformanbietern wie Amazon, Airbnb oder Uber.
Bei allen Bemühungen um die Stärkung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit dürfen die Führungskräfte aber auch nicht die Beschäftigten vergessen: Schließlich sind mit dem digitalen Transformationsprozess auch organisatorische Anpassungsprozesse verbunden, die von den Mitarbeitern mitgetragen werden müssen – schließlich verändern sich ja auch häufig deren Arbeitsplätze.
Sie haben das Unternehmertum unter Gender-Gesichtspunkten sowie anhand traditioneller Wertemuster, wie „Vertrauen“ analysiert. Welche Eigenschaften muss ein/e Unternehmer*in heute mitbringen?
Wir erleben aktuell, dass das Unternehmertum immer vielfältiger und alltäglicher wird. Jeder, der bereit ist, Verantwortung für sein eigenes Handeln und dessen Folgen zu übernehmen, kann eigentlich auch unternehmerisch tätig sein. Schließlich benötigt man heute dank der Informations- und Kommunikationstechnologien nicht mehr grundsätzlich umfassende Produktionsmittel und eine entsprechende finanzielle Basis. Für manches Geschäftsmodell reicht schon ein Laptop aus. Entsprechend verwischen die Grenzen zwischen den Unternehmern, die Produkte und Dienstleistungen anbieten, und den Einzelpersonen, die beispielsweise nur in ihrer Freizeit unternehmerisch tätig werden. Was erfolgreiche UnternehmerInnen grundsätzlich ausmacht, ist, dass sie – so meine Erfahrung – neben Neugier auch über Kreativität und Offenheit für Neues verfügen.
Wirtschaft und Politik sind oft wie Antagonismen in einem engen System gegenseitiger Abhängigkeit. Wie frei ist ein Unternehmen überhaupt noch, seine eigene Zukunft maßgeblich zu gestalten?
Hierzulande sind die Unternehmen natürlich deutlich freier in ihren Entscheidungen als in anderen Wirtschaftssystemen.Generell liegt für mich die ureigene Rolle der Wirtschaftspolitik darin, ein langfristig nachhaltiges Gerüst für unternehmerisches Handeln zu gestalten. Wirtschaftspolitik ist zuvorderst Ordnungspolitik, die für alle Unternehmen – egal ob jung, klein, alt oder groß, gleiche Rahmenbedingungen schafft. Erst in zweiter Linie sollten Förderprogramme etwaige Ungleichheiten beispielsweise beim Zugang zu Kapital ausgleichen. Zugleich sollte die Wirtschaftspolitik kontinuierlich überprüfen, ob die Standortfaktoren den Unternehmen genügend Entwicklungsfreiheit geben. Das ist im Übrigen auch das, was sich die mittelständischen Unternehmen wünschen, wie die Unternehmensbefragungen in 2015 und 2017 für unser „Zukunftspanel Mittelstand“ eindrücklich gezeigt haben.
Das Bild vom deutschen Mittelstand ist das eines familiär und traditionell geprägten Geschäftsmodells. Gelingt den KMUs die Transformation in einer zunehmend vernetzten, digitalisierten Wirtschaftswelt?
Das ist ein Bild des Mittelstands – vor allem des industriell geprägten. Mittelstand ist jedoch viel breiter und umfasst auch das moderne, digital aufgestellte Start-up, den Freiberufler und den Handwerksbetrieb „um die Ecke“. Doch konkret zu Ihrer Frage: Unsere wissenschaftlichen Studien zeigen, dass der Mittelstand insgesamt die Herausforderung „Digitalisierung“ annimmt. Allerdings gibt es durchaus Unterschiede zwischen den kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) und den großen Familienunternehmen, die gleichfalls zum Mittelstand gehören, wenn sie die Voraussetzung „Einheit von Eigentum und Leitung“ noch erfüllen: Die großen Familienunternehmen nutzen die Digitalisierung bereits dazu, die Effizienz entlang der Wertschöpfungskette zu steigern, smarte Produkte herzustellen und mit Hilfe von Big Data Dienstleistungen im After-Sales-Bereich anzubieten.
Bei den KMU diente die Digitalisierung zunächst dazu, Wertschöpfungsketten besser zu managen und die Kundenbeziehungen zu pflegen – also dazu, Prozesse und Strukturen zu verbessern. Inzwischen steigt so langsam auch der Anteil der KMU, die große Datenmengen auswerten, um beispielsweise neue Dienstleistungen anbieten zu können. Mit anderen Worten: Auch den KMU wird die Transformation in die vernetzte, digitalisierte Wirtschaftswelt gelingen – es dauert halt nur länger als bei den großen Unternehmen.
Bei der digitalen Transformation handelt es sich aber auch um einen stetigen Prozess, der vom Ergebnis her offen ist – und bleiben wird. Für die Unternehmenslenker bedeutet dies, dass sie den digitalen Transformationsprozess laufend beobachten müssen, um potenzielle Chancen im eigenen Unternehmens- und Branchenkontext erkennen zu können und gegebenenfalls das eigene Geschäftsmodell weiterzuentwickeln. Dafür müssen sich die Unternehmenslenker Zeit nehmen. Viele sehen in ihrem Tagesgeschäft hierfür jedoch keinen Freiraum – und vernachlässigen den strategischen Aspekt.
Hinzu kommt, dass die digitale Transformation nicht allein ein technologischer Veränderungsprozess ist – er wirkt sich auch auf die Unternehmensorganisation und die Unternehmenskultur aus. Konkret bedeutet dies: Die Unternehmenslenker und Führungskräfte müssen ihre Beschäftigten bei ihrer Unsicherheit gegenüber den digitalen Veränderungen begleiten, sie in den Transformationsprozess miteinbeziehen und sie – wie auch sich selbst – entsprechend weiterbilden (lassen). Auch hierbei sind die großen Unternehmen meist besser aufgestellt als die KMU: Während es in den Großunternehmen meist einen speziell ausgebildeten Chief Digital Officer oder Chief Innovation Officer gibt, erfüllen in den KMU meist die Eigentümer selbst diese Aufgabe.
Mit Blick auf die Transformation der Wirtschaft – an welchen Forschungen arbeiten Sie aktuell und welche Ergebnisse erhoffen Sie sich dabei?
Wir haben in den vergangenen Jahren bereits eine Reihe von Studien zur Transformation der Wirtschaft erstellt – von der „Bedeutung der Digitalisierung im Mittelstand“ über „Disruptive Innovationen: Chancen und Risiken für den Mittelstand“ bis hin zu den Denkpapieren „Digitale Geschäftsmodelle – Chancen und Herausforderungen für den Mittelstand“ und „Digitalisierungskompetenzen in der Führungsebene“. Mit der Transformation der Wirtschaft entstehen aber auch beispielsweise neue Tätigkeitsfelder und Kooperationsformen. Diese beleuchten wir unter anderem aktuell. Zudem interessiert uns – sozusagen als Daueraufgabe –, welche Herausforderungen mit dieser Transformation auf die Wirtschaftspolitik zukommen und wie diese bewältigt werden können. Schließlich ist es unsere Aufgabe, durch die wissenschaftliche Erforschung der Situation des Mittelstands zur Verbesserung seiner allgemeinen Rahmenbedingungen beizutragen.
Vielen Dank, Frau Professor Welter, für das Interview!
Prof. Dr. Friederike Welter ist neben ihrer hauptamtlichen Tätigkeit als Präsidentin des IfM Bonn und Lehrstuhlinhaberin an der Universität Siegen gefragte Wissenschaftlerin bei internationalen Forschungsprojekten.
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