*Disclaimer: Dieser Beitrag geht auf die Inhalte des Neue-Distanz-Webinars „Evidenz in der Corona-Krise“ vom 17. April 2020 zurück. Die Autoren sind Prof. Dr. Marcus Hagedorn (Full Professor of Economics an der Universität Oslo und Leiter des IPE Institut für Politikevaluation), Dieter Romatka (Geschäftsführer „ISK Institut für Kommunikation“) und Dr. Philipp Mauch (Initiator Neue Distanz und Managing Partner PIVOT Regulatory). Die Vortragsfolien stehen Ihnen unter dem nachfolgenden Link zur Verfügung: Neue_Distanz_Webinar_Evidenz_in_der_Corona-Krise
Deutschland steht still. Aber nicht mehr lange. Dass ein Ende des Lockdowns bevorsteht, bezweifelt niemand. Doch wie es in den nächsten Wochen konkret weitergehen soll, das ist unklar. Der Blick in die Zukunft: vernebelt. Die Regierung fährt deshalb, wie man es dieser Tage häufig hört, „auf Sicht“. Verständlich, denn wir wissen noch nicht genug über die Pandemie, um einen vernünftigen Langzeit-Schlachtplan zu entwerfen. Wann soll, kann, darf das normale Leben wieder beginnen? Und wie stellen wir sicher, dass wir die Auswahl der Maßnahmen auf Grundlage belastbarer Daten treffen?
Maskenpflicht, Tracking-Apps, Risikogruppen isolieren – an Ideen, wie man den Stillstand von Gesellschaft und Wirtschaft überwinden kann, mangelt es nicht. Was fehlt ist: wissenschaftliche Evidenz bei der Auswahl und Erfolgskontrolle der Maßnahmen. Denn die Daten, die derzeit erhoben werden – etwa über Antikörpertests in Heinsberg oder München – sind retrospektive Daten. Sie ermöglichen lediglich eine nachträgliche Erklärung der Krise. Das ist gut, aber nicht ausreichend. Wer jetzt weitsichtig handeln will, muss es schaffen, vor den Prozess zu kommen, also Entwicklungen möglichst verlässlich vorherzusehen und ihnen nicht hinterherzulaufen.
Die Herausforderungen bei der Bewertung der eingeleiteten Instrumente sind vielfältig: Zum einen gilt es, mit höchster Priorität zu klären, ob die getroffenen Maßnahmen ausreichend wirksam sind, um die Pandemie nachhaltig einzudämmen. Gleichzeitig müssen wir untersuchen, welche gesellschaftspsychologischen Folgen durch sie entstehen. Denn die Krise verläuft nicht einseitig nur entlang der Infektionskurve, sondern eben auch entlang der Stimmungskurve.
Die Infektionskurve: Rückspiegel vs. Fernglas
Weltweit sind nach Angaben der Johns-Hopkins-Universität deutlich mehr als anderthalb Millionen Menschen nachweislich am neuen Coronavirus erkrankt, Deutschland ist mit Blick auf diese Zahlen eines der am stärksten betroffenen Länder. Klar ist, dass die offiziell angegebenen Zahlen die Realität nicht widerspiegeln und es eine Dunkelziffer gibt. Zwar werden täglich Infektionszahlen des Robert-Koch-Instituts veröffentlicht. Diese berücksichtigen jedoch nur die gemeldeten Fälle. Die Zahl der tatsächlichen Infektionen dürfte um ein Vielfaches höher liegen, da nur ein kleiner Teil der Bevölkerung getestet wird. Hinzu kommt, dass anders als bei der Grippe keine belastbaren Modelle zur Hochrechnung der Infektionszahlen existieren. Folglich ist vollkommen unklar, mit welcher Geschwindigkeit sich das Virus in welchen Regionen Deutschlands ausbreitet und wie erfolgreich bereits getroffene Maßnahmen in den einzelnen Bundesländern sind. Das ist dramatisch, denn mithilfe dieser Informationen könnte geschätzt werden, wie hoch der Anteil der Personen ist, die in absehbarer Zeit stationär behandelt werden müssen und in welchen Regionen medizinisches Gerät besonders dringend benötigt wird. Hier stehen Menschenleben auf dem Spiel.
Doch welchen Weg gibt es aus dem Daten-Dilemma? Ein Ansatz zur Lösung: bundesweit durchgeführte und regional geschichtete, randomisiert-kontrollierte Tests auf das Coronavirus, wie sie etwa das IPE Institut für Politikevaluation fordern. Hierfür müssten täglich mehrere tausend Menschen systematisch auf SARS-CoV-2 getestet werden, unabhängig von Verdachtsfällen oder Symptomen. Die Auswahl der Studienteilnehmer erfolgt repräsentativ aus allen in Deutschland gemeldeten Personen. Der große Vorteil: Die Testergebnisse können auf die Gesamtbevölkerung hochgerechnet werden und ermöglichen eine regional differenzierte Prognose der Infektionszahlen nach Bevölkerungsschichten. Mithilfe der so erhobenen Datengrundlage sind regional-spezifische Eindämmungsmaßnahmen nicht nur möglich, sondern ihr Erfolg könnte auch fortlaufend evaluiert werden.
Die Stimmungskurve: Neue Realität der Digitalisierung anerkennen
Die Erhebung von wissenschaftlich belastbaren Daten zur Bewertung der Maßnahmen im Kampf gegen Corona ist ohne Frage notwendig. Sie betrachtet allerdings nur eine Seite der Medaille. Für die Entscheider aus Politik und Wirtschaft muss es genauso wichtig sein den Zustand der Menschen und der Meinungstrends rechtzeitig zu erkennen und zu wissen, welche Ängste und Erwartungen sie mit der Corona-Krise verbinden. Denn nur wer die Stimmungslage der Menschen kennt und Meinungstrends rechtzeitig antizipieren kann, ist in der Lage, zu belastbaren Vorhersagen zu gelangen und auf deren Grundlage präzise zu entscheiden und zu agieren.
Um aus Daten belastbare Vorhersagen ziehen zu können, braucht es zwei Komponenten: eine strategische und eine taktische Komponente. Als strategische Komponente eignet sich ein Modell des Marktforschungsinstituts concept m aus dem März 2020, die über eine erste global durchgeführte psychologische Studie fünf weltweit gleiche Phasen einer Pandemie beschreiben konnten: Inkubation – Panik – Depression – Neubesinnung – Normalisierung. Als taktische Komponente kann ein tägliches Monitoring der Daten zum Einsatz kommen. Dieses erlaubt es, die Vorhersagen laufend zeitlich und inhaltlich zu präzisieren. Nur mit der Kombination beider Kompomenten ist es möglich, „vor die Lage zu kommen“. Das Institut für Strategie & Kommunikation, ISK, hat eine solche taktische Komponente entwickelt und auf das Phasenmodell angewandt. Über die Datenanalysen konnte so der Zustand der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland in den ersten drei Phasen der Pandemie präzise analysiert werden. Zwar ist die zeitliche Dauer der einzelnen Phasen nicht vorhersehbar (Italien scheint länger in der Depressionsphase zu sein als Österreich), aber Deutschland „lernt“ von anderen, wie von China, wie schnell die Phase der Depression in Neubsesinnung und Normalisierung umschlagen kann.
Während im vordigitalen Zeitalter die Abbildung dieser Realitäten durch stichpunktartige Forschung abgebildet werden sollte, können wir heute im Rahmen der Datenanalysen alle Äußerungen zu einem Thema im Web erfassen, denn Menschen bewegen sich thematisch im Web. Das Gros ihrer Kommentare im Web und in den sozialen Medien sind veröffentlicht und somit für Analysen unter Beachtung der DSGVO zugänglich. Das gilt für Online-News und die Kommentare, für Tweets bei Twitter, Beiträge in Blogs oder Foren, Review-Sites, YouTube etc. Um die Stimmung der Menschen zu kennen und evidenzbasierte Stimmungs-Prognosen abzuleiten, also vor die Lage zu kommen, braucht es die strategische Komponente des Phasenmodells und des täglichen Monitorings zur inhaltlichen und zeitlichen Präzisierung der Vorhersagen.
Bewertungskompetenz: Daten und Fakten richtig einordnen
Wissenschaftliche Evidenz in der Corona-Krise ist die handlungsrelevante Komponente für die politischen Entscheider. Sie ist aber auch für die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland da. Denn schlussendlich sind wir es, die durch unser Verhalten über Erfolg und Misserfolg der getroffenen Maßnahmen im Kampf gegen Covid-19 entscheiden. Dafür müssen wir nicht alle Freizeit-Virologen und Hobby-Statistiker werden. Aber wir müssen kompetenter werden, wenn es darum geht, die uns zur Verfügung stehenden Daten und Fakten einzuordnen und auf unsere Verhaltensweisen zu übertragen. Es ist die Verantwortung der Politik, uns dies so einfach wie möglich zu machen.
Rund 40 Teilnehmer folgten am Freitag, dem 17. April 2020, der Einladung zum Webinar der Neuen Distanz zum Thema „Evidenz in der Corona-Krise – belastbare Daten, informierte Entscheidung“. Im Rahmen der rund einstündigen Veranstaltungen teilten die beiden Keynote-Speaker Prof. Dr. Marcus Hagedorn von der Universität Oslo und Dieter Romatka, Geschäftsführer des ISK Instituts für Strategie & Kommunikation, ihre Erkenntnisse aus einer evidenzbasierten Betrachtung der Corona-Krise. Hier können Sie das Webinar noch einmal in voller Länge sehen. Die Vortragsfolien stehen Ihnen unter dem nachfolgenden Link zur Verfügung: Neue_Distanz_Webinar_Evidenz_in_der_Corona-Krise
Prof. Dr. Marcus Hagedorn ist Full Professor of Economics an der Universität Oslo, Norwegen. Er leitet das „IPE Institut für Politikevaluation“. Das IPE unterstützt die NEUE DISTANZ in ihrer Arbeit inhaltlich.
Herr Professor Hagedorn, Sie unterstützen die Initiative “Neue Distanz” durch Ihre Mitarbeit. Warum ist es Ihres Erachtens notwendig, grundlegende Probleme unserer Tage aus einer neuen, kritischen Distanz zu betrachten? Sind wir in unseren multipolaren Gesellschaften nicht kritisch genug gegenüber den Herausforderungen unserer Zeit?
Die Welt sieht sich mit disruptiven Veränderungen – Klimawandel, digitaler Wandel, ökonomischen Rahmenbedingungen – konfrontiert, die durch die Politik klug flankiert werden müssen. Die Herausforderungen sind neuartig, sodass altbewährte Maßnahmen nicht wirken und neue Lösungen notwendig sind. Dies erfordert einen kritischen und ergebnisoffenen Wettstreit der besten Ideen. Man könnte nun meinen, dass unsere multipolare Gesellschaft in Zeiten des schnellen Informationsaustauschs durch das Internet dafür die besten Voraussetzungen schafft. Dies übersieht meiner Einschätzung nach aber die politische Realität, dass in Massenmedien und weiten Teilen der Bevölkerung eben nicht distanziert und kritisch argumentiert wird, sondern Regierungen, Unternehmen, Verbände etc. darauf bedacht sind, einen Mainstream und somit eine Meinungsmehrheit zu erzeugen. Diese Tendenz zum Mainstream hat leider auch einen erheblichen Teil der Wissenschaft ergriffen, sodass die notwendigen Impulse nur unzureichend in den öffentlichen Diskurs einfließen können. Ich möchte daher einen Beitrag leisten, indem ich neue Aspekte und Ideen in die Meinungsbildung einbringe.
Auf welche Forschungsschwerpunkte haben Sie sich in Ihrer bisherigen Arbeit konzentriert?
Mein Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich der angewandten Makroökonomik mit besonderem Augenmerk auf den Arbeitsmarkt, monetäre Theorie und Politik sowie Fiskalpolitik. Meine aktuelle Arbeitsmarktforschung konzentriert sich auf die Anwendung von Machine-Learning-Methoden auf Big Data um ein besseres Verständnis von Lohnungleichheit, Arbeitslosigkeit und Arbeitsmobilität zu gewinnen. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Regulierung von (Arbeitslosen-)Versicherungen und die optimale Ausgestaltung von Steuerpolitik. Auch entwickle ich ein neues
Paradigma im Bereich der monetären Ökonomie, welches sowohl die bisherigen Überzeugungen von Zentralbanken in Frage stellt als auch der Fiskalpolitik eine neue Verantwortung zuweist.
Kommen wir zu einem Thema globaler Herausforderung, dem Klimawandel. Wendet die Bundesregierung die richtigen Maßnahmen an, damit wir als führende Industrienation den Klimawandel in den Griff kriegen?
Nur bedingt. Zum einen geht es bei den Maßnahmen nur um die Verpflichtungen, die Deutschland im Pariser Abkommen eingegangen ist. Der globale Klimawandel ist eine weitaus größere Baustelle. Zu begrüßen ist die Einführung des Zertifikatehandels – übrigens ein Impuls aus der Wissenschaft, auch wenn dieser besser auf europäischer Ebenen implementiert würde. Da schon häufig diskutiert, möchte ich nicht auf die vielen von der Bundesregierung beschlossenen Einzelmaßnahmen eingehen, die bei einem sinnvoll ausgestalteten Zertifikatehandel kontraproduktiv sind. Stattdessen möchte ich zwei Argumente vortragen. Das erste verteidigt die Bundesregierung gegen vorgebrachte Kritik wohingegen das zweite Argument einen entscheidenden Konstruktionsfehler herausarbeitet.
Ziel eines Preises für CO2 ist eine Verhaltensänderung des Konsumenten durch Verteuerung des CO2-Verbrauchs zu erreichen, also den Konsum von umweltschädlichen hin zu umweltfreundlichen Gütern umzulenken. Dieses Instrument ist aber nur effektiv, wenn es eine CO2-arme oder -freie Alternative gibt, ein Substitut. Falls kein aus Sicht der Konsumenten gleichwertiges Substitut vorhanden ist, kommt es zu keinen Verhaltensänderungen. Eine höhere Besteuerung von Herzschrittmachern würde bspw. zu keinen Verhaltensänderungen führen, da es offensichtlich kein Substitut gibt. Übertragen bspw. auf den Automobilsektor bedeutet dies analog, dass ein CO2 Preis, der die Betriebskosten von Verbrennungsmotoren erhöht, nur zu höheren Kosten für deren Nutzer führen würde – mit vernachlässigbaren Verhaltensänderungen. Aus dem einfachen Grund, dass zurzeit keine gleichwertigen Substitute existieren. Ein extrem hoher Preis heute mag allerdings dazu führen, dass einige sich schlicht kein Auto mehr leisten könnten.
Bemerkenswert ist hierbei, dass auf den Liter Benzin schon ca. 65 Cent Energiesteuer entfallen, was einem CO2-Preis von deutlich mehr als 200 Euro pro Tonne entspricht – offensichtlich ohne Verhaltensänderung. Eine Debatte um 10, 20 oder 40 Euro pro Tonne CO2 als Einstiegspreis ist daher rein symbolisch.
Der (schwerwiegende) Fehler der Bundesregierung ist die obere Schranke für den CO2-Preis im Zertifikatehandel. Diese obere Schranke bedeutet de facto eine obere Schranke für die Anzahl von Zertifikaten und somit eine Schranke für die CO2- Reduktion, die (deutlich) unter den Pariser Klimazielen liegen wird. Das Verfehlen der Pariser Klimaziele ist somit schon eingebaut. Der Zertifikatehandel wird ineffektiv und Konsumenten und Unternehmen wird das fatale Signal gesendet, dass Investitionen in Umweltschutz nicht rentabel sind. Vorgaben an diverse Ministerien, bestimmte CO2 Reduktionen zu erreichen, können da keine Abhilfe leisten und werden ohnehin nur Ineffizienzen generieren.
Was wäre Ihr Gegenvorschlag?
Eine wirtschaftlich sinnvolle Regulierung zur Erreichung der Pariser Klimaziele im Jahr 2030 folgt dem Prinzip der „forward guidance“.
Da es sich beim Pariser Abkommen um ein Mengenziel handelt, wäre der Zertifikate- handel zu bevorzugen, da dieser die punktgenaue Erreichung des Ziels ermöglicht. Der Preis bildet sich dann am Markt. Da die Menge der gehandelten Zertifikate aber unter der Kontrolle der Regierung ist, ist die CO2-Reduktion keineswegs dem Markt überlassen. Dieser sorgt nur für die Effizienz dieser Reduktion.
Ein vernachlässigter Punkt in der Diskussion ist allerdings der richtige Zeitpfad für die Menge an Zertifikaten und somit implizit für den CO2-Preis.
Es wurde schon erläutert, warum eine CO2-Bepreisung im Jahr 2020 aufgrund fehlender Substitute heute keine Lenkungswirkung entfalten kann. Dementsprechend sollte auch die heutige Zertifikatemenge nicht zu stringent gesetzt werden. Für die Setzung des Zeitpfads kommt das bewährte Prinzip der „forward guidance“ zur Anwendung. Dieses besagt, dass es durch eine glaubhafte Ankündigung zukünftiger Handlungen der Regierung schon heute zu Verhaltensanpassungen der Marktteilnehmer kommt. Angewendet auf die Klimaregulierung bedeutet dies, dass
man schon heute glaubhaft einen hohen Preis für das Jahr 2030 (aber auch die vorhergehenden Jahre) und dementsprechend eine geringe Zertifikatemenge festlegt. Die Mengenkurve würde dann für einige Jahre relativ flach verlaufen und dann steiler und steiler werden, wie ein „Hockeystick“. Dieser Kurvenverlauf sorgt dafür, dass die Zeit ausreicht und die richtigen Anreize gesetzt sind, kostengünstige Substitute zu entwickeln. 2030 steht dann ein CO2-armes/-freies Substitut zur Verfügung, auf das die Konsumenten als Reaktion auf den hohen CO2-Preis Ausweichen können. Angewendet auf den Automobilmarkt bedeutet dies, dass 2030 CO2-arme/-neutrale Antriebsformen mit gleichwertigem Nutzwert aber kostengünstiger als Verbrennungsmotoren zur Verfügung stehen. Der glaubhafte hohe zukünftige Preis hat die Anreize zur Entwicklung umweltverträglicher Antriebsformen gesetzt. Die Idee des Zertifikatehandels stellt sicher, dass diese Anreize für all CO2-Emittenten und nicht nur den Automobilsektor bestehen.
Dies verdeutlicht, warum eine obere Schranke für den CO2-Preis fatal ist. Die „forward guidance“ wäre ineffektiv, denn ein zu niedrigerer zukünftiger Preis setzt nicht die notwendigen Anreize zur Entwicklung umweltfreundlicher Substitute.
Herr Professor Hagedorn, vielen Dank für das Gespräch.
„Friday for future“-Bewegung, NABU, BUND, Greenpeace – zivilgesellschaftliche Bewegungen bestimmen die politische Agenda. Doch sind die hoch angesehenen „Non-Governmental-Organizations“ (NGO) wirklich so staatsfern? Wie arbeiten sie tatsächlich mit der Bundesregierung zusammen? Die NEUE DISTANZ sprach darüber mit der FDP-Bundestagsabgeordneten Carina Konrad.
Frau Konrad, wie viel Einfluss haben NGOs?
Das kann ich für die gesamte Gesellschaft und ihre Themen nicht umfassend beurteilen, aber in meinen Fachbereichen, der Landwirtschaft, der Ernährung und dem Verkehr haben NGOs augenscheinlich einen großen Einfluss. Jeder Abgeordnete hat meiner Ansicht nach die Aufgabe, sich umfassend zu informieren, bevor Entscheidungen getroffen werden. Die Kontakte von Abgeordneten mit NGOs überschreitet die Zahl der Verbände und Firmen im Bereich Landwirtschaft wahrscheinlich deutlich. Und wo eigenes Wissen und eigene Erfahrung bei den Abgeordneten fehlt, werden wissenschaftlichen Erkenntnisse und Vernunft zunehmend durch Halbwahrheiten und Angstmacherei ersetzt. Ich habe den Eindruck, dass derzeit die schreiende, laute Minderheit den Ton angibt bei vielen Diskussionen um die Zukunft der Landwirtschaft und Umwelt.
Können Sie das erläutern?
Nehmen Sie die Klimadebatte. Wir diskutieren in Deutschland nationale Maßnahmen, die im Weltmaßstab nichts bringen werden. Dafür ist Deutschland mit seinen noch nicht mal 400.000 Quadratkilometern viel zu klein. Wenn wir auf Inlandsflüge oder Plastiktüten verzichten, bringt das dem Weltklima wenig. Es wird moralisierend diskutiert, Begriffe wie ‚Flugscham‘ entstehen. Daneben plant die Bundesregierung ein Label für mehr Tierwohl, geht aber das eigentliche Problem nicht an. Nämlich dafür zu sorgen, dass mehr Ställe neu- und umgebaut werden. Dabei bringt jeder neue Stall mehr Tierwohl als ein Aufkleber auf einer Verkaufspackung.
… und führen in der Regierung zum Umdenken und zu neuen Entscheidungen.
Die Regierung regiert abgekoppelt vom Parlament. Und im Grünen Umfragehoch sympathisiert die Kanzlerin stark mit den Grünen und ihrer Politik. Schließlich ist nach der Wahl vor der Wahl. Die Diskussion um Glyphosat, beispielsweise, zeigt deutlich, dass nicht Wissenschaft und Vernunft der Leitfaden für Entscheidungen sind, sondern die gesellschaftliche Stimmung, die wiederum beeinflusst wird von Halbwahrheiten und Angstmacherei. Das hat mir der parlamentarische Staatssekretär für Ernährung und Landwirtschaft in einer Fragestunde ja bestätigt.
Wie gut sind NGOs in der Politik vernetzt?
Bei den NGOs aus dem linken, ökologischen Spektrum handelt es sich um hochprofessionelle Vorfeldorganisationen, die Agenda-Setting betreiben. Sie sind personell in Behörden und Verwaltung gut platziert. Nehmen Sie nur den ehemaligen NABU-Landesvorsitzenden Josef Tumbrinck. Er hat 23 Jahre für den Verband gearbeitet und ist heute im Bundesumweltministerium für die Vergabe von Fördermitteln zuständig. Die Fördermittel, von denen Naturschutzorganisationen über Projekte profitieren. Seine Chefin, Bundesumweltministerin Svenja Schulze, ist selbst Mitglied im NABU. Stellen Sie sich mal den Aufschrei vor, wenn Julia Klöckner Mitglied im Bauernverband wäre. Wie gut sich manche Parteien mit den Vorfeldorganisationen abstimmen, kann man an gezielten Aktionen gut beobachten. Ein Beispiel ist die „Plastikwoche“. Die Grünen thematisieren die weltweiten Probleme der Plastikentsorgung und gleichzeitig gibt es von Greenpeace und anderen Aktionen dazu, vorrangig in Berlin, denn hier ist die Reichweite solcher Aktionen besonders hoch.
NGOs als Pressure Groups einzusetzen ist allerdings nicht nur eine Erfindung der Linken. Auch im völkisch-nationalen Spektrum gibt es solche Organisationen, wie die Identitäre Bewegung.
In meinen Themengebieten sind vor allem ökologisch-linke Bewegungen aktiv. Zu völkisch-nationalen Bewegungen habe ich bei meiner politischen Arbeit keine Berührungspunkte.
Aber auch im liberal-konservativen Milieu fehlt eine etablierte Zusammenarbeit zwischen zivilgesellschaftlichen Gruppen und Parteien, oder nicht?
Die CDU hat die Entwicklung nicht erkannt, das ist richtig. Sie hat den Punkt verpasst, sich der neuen Welt zu stellen. Das zeigt ja der ungelenke Umgang mit dem Rezo-Video. Während die Stadt Shanghai 14 Milliarden Dollar in die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz steckt, sollen in Deutschland gerade mal 3 Milliarden dafür verwendet werden, im aktuellen Haushaltsentwurf finden sich davon nur 500 Millionen wieder. Diese Politik ist von gestern und erkennt nicht die Herausforderungen und Chancen der Zukunft. Die konservativen Verbände und Lobbyorganisationen selbst sind da leider nicht besser. Wer die Zeichen der Zeit angesichts der Veränderungen auf der Welt nicht erkennt, macht sich selbst überflüssig. Dadurch polarisieren die politischen Ränder allerdings noch stärker.
Und die Liberalen, die FDP?
Wir sind die einzige Partei, die ihren Kompass noch genordet hat, Wirtschaft, Digitalisierung und Bildung als den Kern von Wohlstand und individueller Freiheit verteidigt und dafür vernünftige Rahmenbedingungen schaffen möchte. Doch diesen Wert einer starken liberalen Partei in der Mitte unserer Gesellschaft schätzt leider nicht jeder.
Mich ärgert es, wenn Unternehmer wie der BASF-Chef, Martin Brudermüller, sich bei den Grünen engagiert, einer Partei, die bei uns in Rheinland-Pfalz gejubelt hat, als die gleiche BASF die Gentechnikforschung aufgrund der Grünen Wirtschaftsministerin Lemke in die USA verlagert hat. Dieses Engagement wird sich für den BASF Standort Deutschland und seine Mitarbeiter nicht nachhaltig auszahlen. Deshalb werden wir Freie Demokraten auch nicht müde für unsere Werte zu werben.
Welche konkreten politischen Auswirkungen hat diese Gemengelage?
Immense: Die Atomenergie? Totgeredet. Kohleverstromung? Totgeredet. Gentechnik? Totgeredet.
Wo ist bei all’ diesen Themen die ausgewogene Debatte über das Für und Wider und wer redet darüber, dass sich Technologien auch weiterentwickeln – oft sogar in eine vielversprechende Richtung? Widersprüche werden ausgeblendet, alles wird moralisch hochstilisiert, NGOs bestimmen die Agenda. Kluge Debatten gehen unter in einer aufgeheizten Stimmung und so verlieren viele das Ziel aus den Augen.
Nun soll es eine Stiftung für Klimafragen geben. 50 Milliarden Euro mit einem Garantiezins von 2 Prozent. Das ist keine Lösung für Klimapolitik, sondern eine Zinssubvention auf Kosten der Steuerzahler und offensichtlich der Traum eines jeden Regierungspolitikers, nämlich ohne die parlamentarische Kontrolle des Deutschen Bundestages über Milliarden verfügen zu können. Dazu kann und dazu darf es meiner Meinung nach nicht kommen. Dass sowas überhaupt diskutiert wird, zeigt, dass die Regierung offenbar nur noch reagiert, statt das Ziel erreichen zu wollen, CO2 einzusparen und bewusst zu agieren. Da gibt es bessere Vorschläge. Nicht die aktive Bepreisung von CO2 seitens der Politik, sondern die aktive Verknappung von CO2. Das wäre ein wirklicher Anreiz zum Einsparen für jeden, ob Privatperson oder Unternehmer.
Vielen Dank, Frau Konrad, für das Gespräch.
Es geht um Macht, viel Macht! Wer macht das eigentlich, dass Menschen sich plötzlich neue Produkte wünschen, Innovationen annehmen und altes Konsumverhalten ad acta legen? Die NEUE DISTANZ sprach mit Dr. Kathrin Loer, Nudging-Expertin an der Universität Osnabrück.
Frau Dr. Loer, Sie haben unlängst einen Artikel über den „Verbraucher als Steuerungsadressat und Bestandteil politischer Strategien in komplexen Politikfeldern“ veröffentlicht. Klingt auch kompliziert. Ganz einfach: Welchen Stellenwert haben Verbraucher in der Politik?
Bürgerinnen und Bürger waren schon immer Erfüllungsgehilfen der Politik. Gesetze und politische Vorhaben sind nichts wert, wenn die Bürger sie nicht anwenden. Grundsätzlich muss eine Zielkonvergenz bestehen zwischen dem, was die Politik will und dem, was die Bürger wollen. Ob die Menschen letztlich mitmachen, hängt aber auch von den Rahmenbedingungen ab. Diese können in komplexen Politikfeldern vielschichtig sein. Es kommen vor allem soziale, sozio-ökonomische oder psychologische Parameter zur Geltung. Ein Großteil des Alltagsverhaltens geschieht intuitiv. Um Verhaltensmuster zu ändern, muss sich mehr tun als nur die rationale Erkenntnis zu erlangen, dass das eine Verhalten falsch und das andere richtig ist.
Die Politik versucht letztlich also, die Menschen zu manipulieren?
Das ist ein hartes Wort. Es geht um die Lenkung von Verhalten. Im Prinzip ist auch eine Verkehrsampel eine Manipulation, da sie uns animiert, an bestimmten Stellen zu fahren oder eben zu halten. Es braucht jedoch auch stimmige Rahmenbedingungen, damit Menschen sich in ihrem Verhalten lenken lassen. Bei einer Ampel ist es eben die grundsätzliche persönliche Einsicht, das Verkehrslenkung sinnvoll ist oder es ist die Angst vor Sanktionen bei Fehlverhalten. Wirken diese Rahmenbedingungen nicht, erreicht auch die Politik die Grenze ihrer Beeinflussung. Jemand, der weder die Einsicht in die Sinnhaftigkeit mit der Politik teilt und auch keine Sanktionen fürchten muss, wird auch nicht vor einer roten Ampel stehen bleiben. Wenn die Politiker und die Bürger grundsätzlich unterschiedlicher Meinung über die angestrebten Ziele sind, werden sie in einer Demokratie eben auch nicht gewählt, bzw. abgewählt. Die Konvergenz über die grundsätzlichen Ziele in der Politik sind entscheidend, ob Politiker gewählt und Bürger gewünschtes Verhalten auch anwenden.
Bei Klimaschutz und gesunder Ernährung besteht doch eine solche Konvergenz. Die allermeisten Menschen teilen diese Einsichten. Dennoch werden keine Elektroautos gekauft und Biofleisch ist was für Spezialisten.
Die persönlichen Rahmenbedingungen sind eben nicht zu unterschätzen. Vielfach adressiert die Politik nicht diese Rahmenbedingungen. Wir dürfen nicht vergessen: Verhaltensänderungen kosten Kraft. Denken Sie nur an die Neujahrsvorsätze, die ein jeder von uns jedes Jahr wieder fasst. Bei zwei Dritteln überleben die Vorsätze den Januar nicht. Ob ein Vorsatz dauerhaft Realität wird, hängt von nicht nur von Motivationen und Sanktionen, sondern von viele verhaltensprägenden Faktoren ab.
Darf Politik den Bürger drangsalieren, um bestimmtes Verhalten zu erzwingen?
Nein, drangsalieren wäre keine Vorgehensweisen, die zu demokratischen Rechtsstaaten passt. Wenn aber die Frage gestellt wird, ob politische Maßnahmen ein hohes Maß an Zwang bedeuten können, ist die Antwort differenzierter. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive lässt sich auch die Auffassung vertreten, dass die gewählten Politiker in Demokratien das Mandat haben, die Bürger zu bestimmten Verhaltensmustern zu zwingen, wenn dem die demokratische Entscheidung über ein bestimmtes zu erreichendes Ziel vorausgeht. Schließlich wurden diese Politiker gewählt, um bestimmte Ziele zu erreichen.
Das funktioniert aber in Deutschland nicht, oder? Sehen wir uns doch die Rentendebatte an. Eigentlich ist jedem klar, dass das Rentensystem in seiner bisherigen Form auf Grund des demographischen Wandels vor dem Kollaps stehen muss. Trotzdem meiden Parteien das Thema oder, wie die Linken, versprechen den warmen Geldregen.
Letztlich zeigt sich hier das, was die Verhaltenswissenschaft intensiv untersucht: Wie lassen sich längerfristige Ziele mit kurzfristigen Bedürfnissen in Einklang bringen? Auch wenn es eine umfassende Einsicht gäbe über die Strukturprobleme des Rentensystems – ich bezweifle, dass es dazu allgemeine und gleiche Auffassungen in der Bevölkerung gibt – aber selbst wenn, dann sind kurzfristige einschneidende Maßnahmen, die bestimmte Bevölkerungsgruppen empfindlich finanziell treffen, doch riskant. Das ist ja eben das Problem in der Demokratie. Politiker haben vielleicht das Mandat, gewisse Verhaltensweisen von den Bürgern abzuverlangen, sie werden aber nicht gewählt, wenn sie das vor Wahlen ankündigen und Menschen dann Einschnitte für ihre Lebensweise und Veränderungen fürchten.
Kommen wir zur Wirtschaft. Inwieweit können Firmen manipulieren?
Die Frage nach dem Ausmaß ist eine Frage für Verhaltenspsychologen – Unternehmen tun das auf jeden Fall kontinuerlich, damit ihre Produkte im Markt erfolgreich sind. Dafür führen sie Umfragen durch, betreiben Marktforschung, welche Innovationen und neuen Produkte die Verbraucher schätzen und akzeptieren. Daraufhin entwickeln sie passende Strategien, die eben – aus Sicht der Unternehmen dann idealerweise – das umfassende Spektrum an Faktoren berücksichtigen, die menschliches Verhalten beeinflussen.
Aber Firmen fordern von Ihren Kunden schon teilweise viel ab, nehmen alte Produkte vom Markt und bringen neue heraus, die andere Verhaltensweisen erfordern.
Ja, es gibt gewisse Pfadabhängigkeiten, die die Unternehmen für sich nutzen. Sie werden es dann tun, wenn dies ihren Markterfolg nicht beeinträchtigt, sondern ihn möglichst steigert. Nehmen Sie nur die Firma Apple. Wer sich einmal für die Produkte dieser Firma entschieden hat, nutzt meistens auch die begleitenden Services, Cloud-Systeme, Applikationen und Office-Anwendungen. Bringt Apple nun ein neues Laptop heraus und baut dort kein CD-Laufwerk mehr ein, ist diese Art des Datenspeichers für die Kunden kaum noch nutzbar. Kaufe ich mir deswegen eine komplett andere Systemumgebung und gewöhne mich um? Ein Systemwechsel wäre zu aufwendig. Also verschwindet die CD für Apple-Kunden aus ihrem Alltag und, da es eine große Nutzergruppe ist, verschwindet die CD als Datenträger langsam aber sicher völlig vom Markt. Die Nutzer setzen irgendwann alle auf Cloud- und Streamingdienste, manche wachsen mit diesen Diensten auf und kennen die „alten“ Datenträger gar nicht mehr.
Welche Bedeutung hat in diesem Spiel dann also noch der Konsument, der Markt?
Er kann einen erheblichen haben, es kommt aber auf den Zeitpunkt an. In der Politikwissenschaft existiert der „Multiple-Streams-Ansatz“ als Erklärungsmuster dafür, wie es zu politischen Entscheidungen und Maßnahmen kommt. Demnach existieren mehrere Strömungen nebeneinander. Das eine ist der „Problem-Strom“, das andere der „Entscheidungsprozess-Strom“ und das Dritte der „Lösungs-Strom“. Ein Problem, politische Prozesse und Dynamiken sowie die im Markt befindlichen verschiedenen Lösungen existieren parallel. Was sich durchsetzt, entscheidet sich dann, wenn sich ein „Window of Opportunity“ öffnet bzw. ein zentraler Akteur diese Öffnung herbeiführt. Dies lässt sich möglicherweise ganz gut auf Produkte übertragen: Nehmen Sie das Klappfahrrad. Die Technik existiert seit 1878. Die heute verwendeten Systeme haben sich im Prinzip seit den 1970er Jahren nicht mehr verändert. Warum ist dann aus einem Nischenprodukt ein Alltagsgegenstand, geradezu ein Trend geworden? Weil in der politischen und medialen Öffentlichkeit immer mehr über alternative Verkehrskonzepte und vor allem multimodalen Verkehr diskutiert wird, weil das Faltrad von der Industrie als Trendprodukt neu entdeckt, entsprechend vermarktet wurde und auf eine kritische Masse an interessierten Nutzern stößt und und weil diese Fahrräder in Bus und Bahn als Handgepäck akzeptiert werden – alle diese Aspekte wirkten und wirken zu einem Zeitpunkt zusammen. Es kann auch „Policy Entrepreneure“ geben, die ein „Window of Opportunity“ erkennen und sich dann für die Einführung neuer Produkte oder Verhaltensweisen einsetzen, indem sie die „Multiple Streams“ zusammenführen.
Das klingt spannend. Kennen Sie weitere Beispiele?
Ich lebe und arbeite in Osnabrück. Dort hat es im vergangenen Jahr einen kompletten Wandel weg von der Plastiktüte gegeben. Sie finden diese Tüten im Grunde nicht mehr im Einzelhandel. Viele Menschen haben sich darauf eingestellt und bringen eine Tasche für den Einkauf mit. Das liegt daran, dass Medien für das Problem des Plastikmülls eine Aufmerksamkeit schaffen, dass Händler den Weg mitgehen und Verbraucher diese Verhaltensänderung akzeptieren. Bei diesen Prozessen können auch Marketingbudgets eine große Rolle spielen, das erklärt aber das neue Zusammenspiel nicht hinreichend. Chefredakteure in den klassischen Medien und Influencer in den sozialen Netzwerken haben heute eine weitreichende Wirkung. Sie treffen letztlich die Entscheidung, warum die Keynote von Apple (und damit dessen Produkte) heute eine so große Aufmerksamkeit bekommen, wie in den 1980er Jahren des vergangenen Jahrhunderts vielleicht ein neues Automodell von Volkswagen.
Wer beeinflusst diese Beeinflusser?
Geld spielt vor allem in den privaten Medien eine erhebliche Rolle. Bei den öffentlich-rechtlichen mag es noch einen gewissen Gestaltungsspielraum geben aber bei gewinnorientierten Medienunternehmen und Influencern gibt es sicher nur noch selten. Verstärkt wird dieser Effekt noch durch gebildete und finanzstarke Mediennutzer, die mit ihren x-millionenfachen Followern Trends weiter lenken und befördern. Dies korrespondiert auch mit neuesten Erkenntnissen zu sogenannten Entscheidungskaskaden: Wenn zwei Personen sich zu einem bestimmtem Thema in gleicher Weise äußern, ist schon wahrscheinlich, dass eine dritte Person aus deren Umfeld sich anschließt, auch wenn sie unter Umständen gar nicht gänzlich überzeugt oder vielleicht kaum informiert ist – dieser Prozess setzt sich dann fort, so dass es ein gewisses Schwarmhandeln gibt. Das muss nicht nur produkt- und gewinnorientiert sein. Nehmen Sie den neuen Feminismus, der in den letzten Jahren entstanden ist. Weg von Alice Schwarzer und Emma, hin zur Kristina Hänels Kampf um Informationsmöglichkeiten zu Schwangerschaftsabbrüchen oder die ganze MeToo-Debatte. „MeToo“ war zunächst „nur“ ein Hashtag. Aber er scheint die Debatte um Feminismus und Frauenrechte nachhaltig zu verändern.
Wir sind also starken Einflüssen ausgesetzt….
Ja, und es ist, unabhängig davon, ob es eine Verhaltensänderung zum Guten oder zum Schlechten ist, die Aufgabe der Politik, sich schützend vor die Bürger zu stellen. Seine Verbraucherschutzrechte – oder nehmen Sie allein den Datenschutz – sind durch geeigente politische Maßnahmen grundsätzlich zu schützen. Darüber muss sich die Politik differenziert Gedanken machen. Dafür haben die Politiker auch das Mandat.
Mit dem „Zentrum für Recht in der digitalen Transformation“ (ZeRdiT) an der Fakultät für Rechtswissenschaften der Universität Hamburg wird in Deutschland erstmals eine wissenschaftliche Einrichtung geschaffen, die sich umfassend mit dem Wandel des Rechts in einer innovativen, modernen Gesellschaft beschäftigt. Wie die gesamte Lebens- und Arbeitswelt, so steht auch das Recht vor einem tief greifenden Wandel. Die NEUE DISTANZ sprach mit Prof. Dr. Wolf-Georg Ringe, dem Leiter des Instituts.
Herr Professor Ringe, was waren die Gründe für die Gründung des ZeRdiT?
Hier sind zwei zu nennen: die Welt verändert sich, unsere Lebenswirklichkeit wird zunehmend eine digitale. Etablierte Rechtsregeln passen nicht mehr. Wir müssen reagieren! Zweitens verändert sich das Recht selbst. Die Rechtsausführung wird zunehmend eine andere. Neue Technologien, wie zum Beispiel Überwachungstechniken, fordern das Recht heraus. Oder nehmen Sie die Marktaufsicht der BaFin im FinTech-Bereich. Hinzu kommt der Einsatz künstlicher Intelligenz in behördlichen Prozessen. Wir müssen die Art und Weise der Anwendung geltenden Rechts an neuen Grundprinzipien ausrichten. Unser Institut widmet sich diesen Prozessen.
Sie sagen, dass das geltende Recht auf die neuen Bedingungen reagieren muss. Genau dies ist oftmals der Vorwurf. Das Recht reagiert immer nur, anstatt den Rechtsrahmen proaktiv anzupassen.
Das ist ein wichtiger und richtiger Punkt. Wir können nicht immer nur darauf warten, bis sich neue Technologien etabliert haben, um danach den Rechtsrahmen zu entwickeln. Die Entwicklung neuer Technologien und die Anpassung dafür geltenden Rechts muss parallel passieren. In anderen Ländern wird es zunehmend üblich, mit dem Prinzip so genannter „Regulatory Sandboxes“ zu arbeiten. Das sind, bildlich gesprochen, Experimentierräume, in denen neue Technologien und neues Recht im Dialog miteinander parallel entstehen. Man lässt den Unternehmen die Freiräume, sich ohne einengende Rechtsvorschriften relativ frei zu entwickeln und Technologien in der Anwendung zu erproben. Die behördliche Aufsicht befindet sich zeitgleich im Dialog mit diesem Unternehmen, um die geltende Rechtslage möglichst schnell anzupassen.
Wie soll das funktionieren? Wirtschaft steht Regulierung skeptisch gegenüber. Häufig zu hören: „lasst uns in Ruhe, wir können selbst auf uns aufpassen“…
Das ist es ja gerade. Die Skepsis und Ablehnung gegenüber Regulierungen rührt insbesondere daher, dass Gesetze und Normen oftmals nicht pragmatisch sind und der Wirtschaft nicht helfen. Kommen wir jedoch im Dialog zu vernünftigen, pragmatischen Gesetzen, werden auch die Unternehmen diesen dann offen gegenüberstehen. Da bin ich mir sicher. Niemand wird etwas gegen einen vernünftig regulierten Markt haben, in dem klare Gesetze und Normen herrschen, die anwendbar und pragmatisch sind.
Erläutern Sie bitte das Prinzip der „Sandboxes“ näher.
Diese werden seit 2015 als Methode verwendet. Sie sind gestartet in der Fintech-Branche in Großbritannien. Grundsätzlich geht es darum, dass StartUps ihre innovativen Tools und Ideen in einem geschützten Übungsszenario anwenden können, ohne jedoch schon alle regulatorischen Bedingungen erfüllen zu müssen. Die Financial Conduct Authority (FCA) in Großbritannien hat gute Erfahrungen mit dieser Art der begrenzten Zulassung hoch innovativer Finanzdienstleister gemacht. Das Konzept wird aktuell auch in den Fintech-Branchen anderer Länder angewendet. In Deutschland steht man dem Konzept bislang jedoch eher kritisch gegenüber. Die BaFin als Aufsichtsbehörde sieht sich nicht in der Rolle des Wirtschaftsförderers. Auch kann es zu Wettbewerbsverzerrungen führen, wenn der eine Anbieter im Rahmen der Toolbox seine Instrumente erproben darf, ein anderer jedoch noch nicht. Aber ich erkenne einen grundsätzlichen Mentalitätswandel, vor allem im Wirtschaftsministerium. Man öffnet sich zunehmend dieser Idee. Wir werden schauen, ob sich Sandboxes nicht doch hierzulande und auch in weiteren, hoch innovativen Branchen einsetzen lassen.
Das Argument, dass in Deutschland Dinge nicht umgesetzt werden, die in anderen Ländern längst etabliert sind, hört man oft. Warum übernehmen wir nicht einfach Regelungen und Gesetze, die anderswo schon längst die Bewährungsprobe bestanden haben? Braucht es in einer globalisierten Welt immer wieder einen deutschen Sonderweg?
Wir wollen nicht unbesehen ausländische Rechtsnormen übernehmen, wenn diese gar nicht zu unserem bestehenden Rechtssystem passen oder unseren Werten und Vorstellungen entsprechen. Gerade im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI) und der Digitalisierung im Allgemeinen stellen wir uns derzeit grundlegende, existenzielle Fragen. Was soll KI dürfen und können? Wo sind die moralischen Grenzen? Ich gebe Ihnen aber Recht – wir müssen nicht überall eine deutsche Lösung suchen. Vor allem innerhalb Europas ließe sich sicher relativ schnell ein gemeinsamer Wille erarbeiten. Unsere europäischen Nachbarn sind uns, was Menschen- und Bürgerrechte, Datenschutz angeht, ja doch sehr ähnlich.
Woran arbeitet das ZeRdiT konkret und wie finanzieren Sie sich?
Das Institut wird derzeit querschnittsfinanziert durch laufende Projekte der Partner. Das sind unter anderem Innovationsprojekte aus der Finanzindustrie oder aus der medizinischen Praxis. Bei letzterem Projekt arbeiten wir mit dem Universitätsklinikum Eppendorf zusammen. Wir haben zudem internationale Partnerschaften etwa mit Universitäten in Japan und Taiwan. Für die Zukunft setzen wir auf das zunehmende Verständnis in Deutschland, dass Innovationen in der Wirtschaft und Gesellschaft auch eine innovative Rechtsprechung und Gesetzgebung brauchen. Ein Forschungsprojekt des Bundes über den grundlegenden Rechtsrahmen bei digitalen Märkten im internationalen Wettbewerb wäre meines Erachtens genau richtig für uns und notwendig für uns alle.
Professor Joachim Weimann ist Volkswirtschaftler an der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg. Er beschäftigt sich mit den wirtschaftspolitischen Steuerungsmechanismen, unter anderem bei der Klima- und Rentenpolitik. Die NEUE DISTANZ sprach mit ihm über Sinn und Unsinn in der aktuellen deutschen Industriepolitik.
Peter Altmaier hat für seine Industriestrategie viel Kritik eingesteckt. Teilen Sie diese Kritik?
Der Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek benutzte für den Versuch, Wirtschaft planen zu wollen, die Beschreibung der „Anmaßung von Wissen“. Es ist demnach eine Anmaßung, wenn Einzelne zu wissen glauben, wie die Gesellschaft bestmöglich zu gestalten ist. Die Zukunft und die bestmöglichen Lösungen in der Zukunft kennt aber niemand von uns, keine einzelne Person und kein Komitee. Sie entwickeln sich im Laufe der Zeit und der beste uns bekannte Mechanismus für das Auffinden für Problemlösungen sind Märkte. Wenn der Bundeswirtschaftsminister nun glaubt, die wirtschaftliche Ordnung der Zukunft heute schon zu kennen und die Politik danach ausrichten zu müssen, ist das nichts anderes als eine solche Anmaßung.
Aber irgendwie muss man ja Zukunft gestalten?
Intellektuelle in Politik, Wissenschaft und Medien glaubten schon immer zu wissen, wie man Gesellschaft zu gestalten habe. Dabei entscheiden Märkte viel intelligenter. Solange auf ihnen Wettbewerb herrscht, sind individuellen Entscheidungen unabhängiger Wirtschaftssubjekte viel besser als ein zentraler „Mastermind“ Das ist ökonomisches Grundlagenwissen seit mehr als einhundert Jahren.
Nun ist der Klimawandel faktisch vorhanden. Er wird aber im freien Spiel der Kräfte, zum Beispiel bei der Energiegewinnung oder -nutzung nicht berücksichtigt. Weltrettung hat keinen Preis….
Der Markt funktioniert nicht immer. Es gibt Fälle, in denen sind Eingriffe des Staates unumgänglich. Das Klimaproblem ist ein Beispiel. Dass die Verbrennung fossiler Brennstoffe Kosten in Form von Klimaveränderungen hat, signalisiert der Markt von allein nicht. Es gibt per se keine Eigentumsrechte an der Atmosphäre. Hier muss der Staat eingreifen. Aber auch beim Klimaschutz zeigt sich, dass die Frage, wer, wie, wo Emissionen einspart, besser dem Markt überlassen bleibt. Der Emissionshandel, bei dem das der Fall ist, hat sich als viel effektiver und effizienter erwiesen als die planwirtschaftliche Klimapolitik Deutschlands. Der Staat setzt den Rahmen, indem er vorgibt, wie viel CO2 einzusparen ist. Den Rest findet der Markt alleine für sich heraus. Der Emissionshandel war gut und richtig. Er hat dazu geführt, dass das Entstehen von Kohlendioxid seit 2008 um bislang 25 Prozent reduziert wurde. Das deutsche EEG, das horrende Kosten verursacht, hat daran nur einen sehr kleinen Anteil.
Was unterscheidet die derzeitige Politik von dieser klugen Vorgehensweise, den Rahmen zu setzen? So wird doch der Automobilindustrie zum Beispiel durch die Reduktion der Abgaswerte genau solch ein Rahmen gesetzt?
Deutschland denkt zu stark in Sektoren. Es wird kein allgemeines Ziel vorgegeben, sondern einzelnen Branchen werden dirigistische Vorgaben gemacht, wie eben der Automobilindustrie. Diese Vorgaben sind dann so streng, dass die zu erreichenden Grenzwerte an Kohlendioxid gar nicht mehr ohne die Einführung von Elektromotoren realisierbar sind. Der Automobilindustrie wird also de facto vorgeschrieben, WIE sie das Ziel zu erreichen hat, nämlich durch die Produktion von Elektroautos. Das ist Planwirtschaft. Nicht berücksichtigt wird dabei, dass bei der Herstellung des Stroms oder bei der Produktion der Batterien sehr viel Kohlendioxid produziert wird, um diese Elektromobilität realisieren zu können. Elektroautos produzieren kaum weniger Kohlendioxid als die bisherigen Verbrennungsmotoren, sind aber extrem teuer. Es gibt auf diesem Planeten kaum eine teurere Methode CO2 einzusparen als durch Elektroautos. Eine vernünftige Klimapolitik vermeidet dort CO2, wo es wenig kostet, denn nur dann bekommen wir für unser Geld den maximalen Klimaschutz. Deshalb darf man nicht in Sektoren denken. Elektroautos vorzuschreiben maximiert die Kosten und minimiert damit die Chancen, viel CO2 einzusparen. Das ist eine sehr kurzsichtige, dirigistische Politik.
Und Peter Altmaier stößt nun mit seiner Industriestrategie Ihrer Meinung nach ins gleiche Horn?
Er meint, zu wissen, welche Industriestruktur in der Zukunft die richtige ist. Das ist an Hybris nicht zu überbieten. Den Unternehmen wird bei dieser Denke nicht zugetraut, die für die Zukunft bestmögliche Lösung finden zu können. So wird zum Beispiel die Zink-Kohle-Batterie von Altmaier favorisiert. Er will Milliarden an Steuergeldern in die Batteriezellfertigung fließen lassen. Dabei ist doch gar nicht entschieden, ob Batterien in der Zukunft die besten Energiespeicher sind. Die Probleme mit diesen Batterien sind immens und nicht gelöst.
Aber China macht uns vor, wie man erfolgreich wirtschaftet und Altmaier will Deutschland in Europa besser gegen chinesischen Staatskapitalismus wappnen…
Das Argument ist für mich ebenfalls nicht überzeugend. Die Frage, welcher Kapitalismus – der Staatskapitalismus oder der freie, demokratische Kapitalismus – der bessere ist, ist in der Tat die neue Systemfrage. Chinesischen Staatskapitalismus nun mit einem „Peking en miniature“ in Europa zu beantworten ist aber der falsche Weg. Ich rate uns zu mehr Selbstbewusstsein, bei der Stärkung freien unternehmerischen Handelns in Deutschland und Europa.
Der Kommunikationsberater Hasso Mansfeld sagt, NGOs seien einflussreiche „mächtige Riesen“, die die öffentliche Meinung wesentlich beeinflussen. Der Staat müsse für mehr Transparenz sorgen und Medien sollten diese NGOs deutlich stärker kontrollieren. Die NEUE DISTANZ sprach mit Mansfeld über die möglichen Auswirkungen auf die wirtschaftliche Transformation.
Herr Mansfeld, was haben Sie gegen NGOs?
Gar nichts! NGOs sind ein wichtiger, wesentlicher Teil der Zivilgesellschaft. Nur stellen wir fest, dass es inzwischen fast unmöglich ist für andere Teile der Gesellschaft, argumentativ dagegen anzukommen. Die Medien spielen da eine klägliche Rolle.
Können Sie das belegen?
Ich will Ihnen mal ein Beispiel geben. In meiner Arbeit als Kommunikationsberater habe ich mal für ein Datingportal gearbeitet. Wir haben dort auf Grundlage der vorhandenen Daten von rund 100.000 Profile analysiert, mit welchen Vokabeln in der Profilbeschreibung man bei der Partnersuche besonders erfolgreich ist. Wer in seinem Profil zum Beispiel die Worte „Rotwein“, Kultur“ oder „Architektur“ erwähnt, hat gleich bessere Chancen. Das war eine für die Allgemeinheit interessante und relevante Erhebung, statistisch repräsentativ. Als ich damit zur dpa gegangen bin, wurde diese Analyse auf Grund zu geringer Stichprobengröße abgelehnt. Wenn jedoch das Umweltinstitut München in 16 Stichproben Glyphosatrückstände in Muttermilch nahe der Nachweisgrenze findet, dann ist das den Medien eine Riesenmeldung wert. So wird mit zweierlei Maß gemessen, so wird Gesellschaft beeinflusst und Politik gemacht.
Aus welchen Gründen?
NGOs gelten als unabhängig und genießen per se einen Vertrauensvorschuss. Vor allem bei Journalisten, die damit ihre eigene politische Meinung belegt sehen. Dabei sind NGOs zwar ein sicherlich wichtiger Antagonist zu Politik und Wirtschaft, sie sind aber nicht neutral. Ein Atomexperte von Greenpeace wird in den Medien indes gerne als unabhängiger Experte dargestellt. Er ist es aber nicht. Er ist nicht unabhängig, weil er von Greenpeace bezahlt wird und er ist nicht neutral, weil Greenpeace eine ausgewiesene Anti-Atomkraft-Initiative ist. Genauso müsste man dann einen Vertreter des Deutschen Atomforums als neutralen Experten zu Wort kommen lassen. Undenkbar.
Warum sind die NGOs so mächtig?
Sie sind deshalb so mächtig geworden, weil sie an der politischen Willensbildung massiv mitwirken, aber kaum einer Kontrolle und Rechenschaftspflicht unterworfen sind. Laut Grundgesetz wirken Parteien an der politischen Willensbildung mit. Dafür müssen sie bestimmte Grundbedingungen erfüllen. Dort heißt es: „Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben.“ Das gilt für NGOs eben so nicht. Sie wirken aber ebenso an der politischen Willensbildung mit, und zwar massiv und in Teilen stärker als es die Parteien heute tun.
Aber es gibt den Status der Gemeinnützigkeit, den viele NGOs haben und der auch an Bedingungen geknüpft ist.
Nehmen Sie Attac. Es ist für die politische Arbeit der Organisation eigentlich unerheblich, ob die nun Spendenbescheinigungen ausfüllen dürfen, oder nicht. Ihrer Wirkmacht in den Medien tut das keinen Abbruch.
Dennoch scheint die Aberkennung der Gemeinnützigkeit vielen NGOs Angst einzujagen. Es hat sich eine Dachorganisation mit dem Namen „Allianz Rechtssicherheit für politische Willensbildung“ gebildet mit mehr als 100 Vereinen und Stiftungen. Sie kämpft für eine vielseitige politische Zivilgesellschaft….
Und genau damit hapert es. Wir haben heute eine inhärente Einteilung in eine angeblich „gute Lobby“ und eine „schlechte Lobby“. Es gibt keinen neutralen Boden auf dem man sich begegnen kann.
Beeinflusst diese unausgewogene Grundlage aber tatsächlich Politik?
Ich will Ihnen mal ein weiteres konkretes Beispiel geben. Biotechnologie ist für die Gestaltung unserer Zukunft wesentlich….
….die deutsche Bundesregierung will unser Land im globalen Wettbewerb hier in die Spitzengruppe bringen, hat im Koalitionsvertrag die „Plattform industrielle Bioökonomie“ festgeschrieben….
… und dafür unter anderem die „Fachstelle Gentechnik und Umwelt“ (FGU) eingerichtet. Diese soll das Bundesumweltministerium neutral beraten und wird dafür aus dem Bundeshaushalt finanziert. Die FGU wird gebildet von „Testbiotech“. Deren Geschäftsführer ist Dr. Christoph Then. Er leitete bis 2007 den Bereich „Gentechnik und Landwirtschaft“ bei Greenpeace. Im Beirat der FGU sind Organisationen, wie: die „Interessengemeinschaft für gentechnikfreie Saatgutarbeit“, das „Gen-ethische Netzwerk“, der „Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland“, besser bekannt als BUND und die Organisation „Save Our Seeds“. Die gesamte Lobby der Genkritiker als Berater der Bundesregierung, die wiederum den Biotech-Standort Deutschland gestalten will. Stellen Sie sich nur vor, das Wirtschaftsministerium würde sich bei der Ausgestaltung der deutschen Atompolitik vom Deutschen Atomforum als „Fachstelle Reaktorsicherheit“ beraten lassen. Da würden – metaphorisch gesprochen – Scheiterhaufen brennen!
Was wäre denn Ihre Lösung, wie soll man das Problem denn in den Griff kriegen?
Eine aktive Zivilgesellschaft ist und bleibt ein wesentliches Prinzip von Demokratie. Demokratie bildet sich jedoch nur auf Grund von Kontrolle und Beschränkung der Macht. Niemand darf so mächtig werden, dass unterlegene Positionen nicht mehr zum Vorschein kommen. Sie sollten genau die gleiche Chance haben, an der Macht zu partizipieren. Ein „Checks and Balances“ muss für alle gleichermaßen gelten.
Konkret?
Die Perspektive der Industrie, der Unternehmen hat, die selbe Berechtigung, dargestellt zu werden. Heute wird Gewinnstreben grundsätzlich in Frage gestellt. Dabei kann der moralische Wert eines Unternehmens gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Es versorgt die Bevölkerung mit nachgefragten Produkten, es bildet Arbeitsplätze, die Gewinne und das damit verbundene Steueraufkommen finanzieren das gesamte Gemeinwesen, letztlich auch Bundeszuwendungen, wie sie unter anderem dann an die FGU fließen. Dennoch hört man im politischen Raum dann immer wieder: „Die wollen doch nur Geld verdienen.“ Damit wird der Wirtschaft in der politischen Debatte die Daseinsberechtigung abgesprochen. Ein Unternehmen ist auch eine NGO und hat das gleiche Recht, gehört zu werden. Ihr Ansinnen ist genau so legitim wie das einer Umweltschutzorganisation. Wenn eine Seite der Meinung dauerhaft dominiert, wie das in Deutschland der Fall ist, ist das genau das Gegenteil von Demokratie. Auf dieser Basis dann die Leitlinien der industriellen Transformation zu bestimmen – das kann nur in die Hose gehen.
Der deutsche Mittelstand steht im Zentrum vieler Diskussionen, wenn es um die Transformation der Wirtschaft geht. Doch ist dieser überhaupt in der Lage, sich neu aufzustellen und welche Voraussetzungen braucht es dafür? Die NEUE DISTANZ sprach darüber mit Frau Professorin Friederike Welter vom Institut für Mittelstandsforschung Bonn.
Die Wirtschaft soll sich transformieren, hört man an vielen Stellen. Unterscheidet sich der heutige Prozess zu denen früherer Zeiten eigentlich wesentlich? Schließlich hat es Umwälzungen und Brüche schon immer gegeben. So ist die heute als etabliert und ein wenig altbacken geltende Automobilindustrie schließlich selbst einmal Motor eines die Welt verändernden technologischen Wandels gewesen.
Der heutige digitale Transformationsprozess ist prinzipiell mit den tiefgreifenden Veränderungen in früheren Zeiten wie beispielsweise dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft (zweite Hälfte 18. Jahrhundert), dem Beginn der Massenproduktion (Anfang 20. Jahrhundert) oder der mikroelektronischen Revolution (ab Mitte der 1970er Jahre) vergleichbar. Da sich im Zuge dieser Umbrüche auch die Wirtschafts-, Produktions- und Arbeitsformen verändert haben, werden diese Transformationsprozesse gerne als „Industrielle Revolutionen“ bezeichnet – entsprechend gilt die aktuelle Entwicklung auch als „4. Industrielle Revolution“.
Neu am aktuellen digitalen Transformationsprozess ist die hohe Taktzahl, mit der unternehmerische Konzepte sowie Produkte und Dienstleistungen entstehen und weiterentwickelt werden. Oder anders ausgedrückt: Das, was heute technologisch en vogue ist, kann morgen schon durch die unternehmerischen Aktivitäten eines Wettbewerbers veraltet sein. Genau in diesem Aspekt liegt jedoch die Crux für die mittelständischen Unternehmen, die sich keine eigene IT-Abteilung leisten können: Wenn sie wettbewerbsfähig bleiben wollen, müssen sie den digitalen Transformationsprozess mitmachen. Für die Führungskräfte bedeutet dies, dass sie neben dem Tagesgeschäft nicht nur regelmäßig die Gesamtunternehmenssituation betrachten, sondern auch die technologischen Möglichkeiten im Blick behalten und die Zukunftsfähigkeit des eigenen Geschäftsmodells kritisch hinterfragen müssen. Erschwerend kommt hinzu, dass die eigene Geschäftsidee sowohl von unmittelbaren Mitbewerbern als auch von Branchenfremden bedroht werden kann. Denken Sie beispielsweise an den Erfolg von Plattformanbietern wie Amazon, Airbnb oder Uber.
Bei allen Bemühungen um die Stärkung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit dürfen die Führungskräfte aber auch nicht die Beschäftigten vergessen: Schließlich sind mit dem digitalen Transformationsprozess auch organisatorische Anpassungsprozesse verbunden, die von den Mitarbeitern mitgetragen werden müssen – schließlich verändern sich ja auch häufig deren Arbeitsplätze.
Sie haben das Unternehmertum unter Gender-Gesichtspunkten sowie anhand traditioneller Wertemuster, wie „Vertrauen“ analysiert. Welche Eigenschaften muss ein/e Unternehmer*in heute mitbringen?
Wir erleben aktuell, dass das Unternehmertum immer vielfältiger und alltäglicher wird. Jeder, der bereit ist, Verantwortung für sein eigenes Handeln und dessen Folgen zu übernehmen, kann eigentlich auch unternehmerisch tätig sein. Schließlich benötigt man heute dank der Informations- und Kommunikationstechnologien nicht mehr grundsätzlich umfassende Produktionsmittel und eine entsprechende finanzielle Basis. Für manches Geschäftsmodell reicht schon ein Laptop aus. Entsprechend verwischen die Grenzen zwischen den Unternehmern, die Produkte und Dienstleistungen anbieten, und den Einzelpersonen, die beispielsweise nur in ihrer Freizeit unternehmerisch tätig werden. Was erfolgreiche UnternehmerInnen grundsätzlich ausmacht, ist, dass sie – so meine Erfahrung – neben Neugier auch über Kreativität und Offenheit für Neues verfügen.
Wirtschaft und Politik sind oft wie Antagonismen in einem engen System gegenseitiger Abhängigkeit. Wie frei ist ein Unternehmen überhaupt noch, seine eigene Zukunft maßgeblich zu gestalten?
Hierzulande sind die Unternehmen natürlich deutlich freier in ihren Entscheidungen als in anderen Wirtschaftssystemen.Generell liegt für mich die ureigene Rolle der Wirtschaftspolitik darin, ein langfristig nachhaltiges Gerüst für unternehmerisches Handeln zu gestalten. Wirtschaftspolitik ist zuvorderst Ordnungspolitik, die für alle Unternehmen – egal ob jung, klein, alt oder groß, gleiche Rahmenbedingungen schafft. Erst in zweiter Linie sollten Förderprogramme etwaige Ungleichheiten beispielsweise beim Zugang zu Kapital ausgleichen. Zugleich sollte die Wirtschaftspolitik kontinuierlich überprüfen, ob die Standortfaktoren den Unternehmen genügend Entwicklungsfreiheit geben. Das ist im Übrigen auch das, was sich die mittelständischen Unternehmen wünschen, wie die Unternehmensbefragungen in 2015 und 2017 für unser „Zukunftspanel Mittelstand“ eindrücklich gezeigt haben.
Das Bild vom deutschen Mittelstand ist das eines familiär und traditionell geprägten Geschäftsmodells. Gelingt den KMUs die Transformation in einer zunehmend vernetzten, digitalisierten Wirtschaftswelt?
Das ist ein Bild des Mittelstands – vor allem des industriell geprägten. Mittelstand ist jedoch viel breiter und umfasst auch das moderne, digital aufgestellte Start-up, den Freiberufler und den Handwerksbetrieb „um die Ecke“. Doch konkret zu Ihrer Frage: Unsere wissenschaftlichen Studien zeigen, dass der Mittelstand insgesamt die Herausforderung „Digitalisierung“ annimmt. Allerdings gibt es durchaus Unterschiede zwischen den kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) und den großen Familienunternehmen, die gleichfalls zum Mittelstand gehören, wenn sie die Voraussetzung „Einheit von Eigentum und Leitung“ noch erfüllen: Die großen Familienunternehmen nutzen die Digitalisierung bereits dazu, die Effizienz entlang der Wertschöpfungskette zu steigern, smarte Produkte herzustellen und mit Hilfe von Big Data Dienstleistungen im After-Sales-Bereich anzubieten.
Bei den KMU diente die Digitalisierung zunächst dazu, Wertschöpfungsketten besser zu managen und die Kundenbeziehungen zu pflegen – also dazu, Prozesse und Strukturen zu verbessern. Inzwischen steigt so langsam auch der Anteil der KMU, die große Datenmengen auswerten, um beispielsweise neue Dienstleistungen anbieten zu können. Mit anderen Worten: Auch den KMU wird die Transformation in die vernetzte, digitalisierte Wirtschaftswelt gelingen – es dauert halt nur länger als bei den großen Unternehmen.
Bei der digitalen Transformation handelt es sich aber auch um einen stetigen Prozess, der vom Ergebnis her offen ist – und bleiben wird. Für die Unternehmenslenker bedeutet dies, dass sie den digitalen Transformationsprozess laufend beobachten müssen, um potenzielle Chancen im eigenen Unternehmens- und Branchenkontext erkennen zu können und gegebenenfalls das eigene Geschäftsmodell weiterzuentwickeln. Dafür müssen sich die Unternehmenslenker Zeit nehmen. Viele sehen in ihrem Tagesgeschäft hierfür jedoch keinen Freiraum – und vernachlässigen den strategischen Aspekt.
Hinzu kommt, dass die digitale Transformation nicht allein ein technologischer Veränderungsprozess ist – er wirkt sich auch auf die Unternehmensorganisation und die Unternehmenskultur aus. Konkret bedeutet dies: Die Unternehmenslenker und Führungskräfte müssen ihre Beschäftigten bei ihrer Unsicherheit gegenüber den digitalen Veränderungen begleiten, sie in den Transformationsprozess miteinbeziehen und sie – wie auch sich selbst – entsprechend weiterbilden (lassen). Auch hierbei sind die großen Unternehmen meist besser aufgestellt als die KMU: Während es in den Großunternehmen meist einen speziell ausgebildeten Chief Digital Officer oder Chief Innovation Officer gibt, erfüllen in den KMU meist die Eigentümer selbst diese Aufgabe.
Mit Blick auf die Transformation der Wirtschaft – an welchen Forschungen arbeiten Sie aktuell und welche Ergebnisse erhoffen Sie sich dabei?
Wir haben in den vergangenen Jahren bereits eine Reihe von Studien zur Transformation der Wirtschaft erstellt – von der „Bedeutung der Digitalisierung im Mittelstand“ über „Disruptive Innovationen: Chancen und Risiken für den Mittelstand“ bis hin zu den Denkpapieren „Digitale Geschäftsmodelle – Chancen und Herausforderungen für den Mittelstand“ und „Digitalisierungskompetenzen in der Führungsebene“. Mit der Transformation der Wirtschaft entstehen aber auch beispielsweise neue Tätigkeitsfelder und Kooperationsformen. Diese beleuchten wir unter anderem aktuell. Zudem interessiert uns – sozusagen als Daueraufgabe –, welche Herausforderungen mit dieser Transformation auf die Wirtschaftspolitik zukommen und wie diese bewältigt werden können. Schließlich ist es unsere Aufgabe, durch die wissenschaftliche Erforschung der Situation des Mittelstands zur Verbesserung seiner allgemeinen Rahmenbedingungen beizutragen.
Vielen Dank, Frau Professor Welter, für das Interview!
Prof. Dr. Friederike Welter ist neben ihrer hauptamtlichen Tätigkeit als Präsidentin des IfM Bonn und Lehrstuhlinhaberin an der Universität Siegen gefragte Wissenschaftlerin bei internationalen Forschungsprojekten.
NEUE DISTANZ
„Wir lösen die Probleme der Welt nicht, in dem wir uns in sie vertiefen, vergraben, sondern in dem wir sie aus einer NEUEN DISTANZ betrachten und umfassend angehen.“
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